Ausdrucksvolles

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Lauf nicht, geh langsam.
Du musst nur auf dich zu gehn!
Geh langsam, lauf nicht,
denn das Kind deines Ichs,
das ewig neugeborene,
kann Dir nicht folgen!
Juan Ramón Jiménez

 

 

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Ich suche nicht – ich finde
Suchen – das ist Ausgehen von alten Beständen und ein Finden-Wollen
von bereits Bekanntem im Neuem.
Finden – das ist das völlig Neue!
Das Neue auch in der Bewegung.  Alle Wege sind offen
und was gefunden wird,
ist unbekannt.
Es ist ein Wagnis, ein heiliges Abenteuer!
Die Ungewißheit solcher Wagnisse
können eigentlich nur jene auf sich nehmen,
die sich im Ungeborgenen geborgen wissen,
die in die Ungewißheit,
in die Führerlosigkeit geführt werden,
die sich im Dunkeln einem unsichtbaren Stern überlassen,
die sich vom Ziele ziehen lassen und nicht
– menschlich beschränkt und eingeengt –
das Ziel bestimmen.
Dieses Offensein für jede neue Erkenntnis
im Außen und Innen:
Das ist das Wesenhafte des modernen Menschen,
der in aller Angst des Loslassens
doch die Gnade des Gehaltenseins
im Offenwerden neuer Möglichkeiten erfährt.
Pablo Picasso

 

BITTE
Wir werden eingetaucht
und mit den Wassern der Sintflut gewaschen
Wir werden durchnässt
bis auf die Herzhaut

Der Wunsch nach der Landschaft
diesseits der Tränengrenze
taugt nicht
der Wunsch den Blütenfrühling zu halten
der Wunsch verschont zu bleiben
taugt nicht

Es taugt die Bitte
dass bei Sonnenaufgang die Taube
den Zweig vom Ölbaum bringe
dass die Frucht so bunt wie die Blume sei
dass noch die Blätter der Rose am Boden
eine leuchtende Krone bilden

und dass wir aus der Flut
dass wir aus der Löwengrube und dem feurigen Ofen
immer versehrter und immer heiler
stets von neuem
zu uns selbst
entlassen werden.
Hilde Domin

 

GRENZERFAHRUNG
Die Wände bemalend
beschriftend
gestalte ich meine Grenzen
erfahre Mauern und Türen
Farbe bekennend
Worte sprechend
mache ich mich sichtbar

In Unsicherheit
Ehrfurcht
Ausdruck
Kraft
Verletzlichkeit
Bedürftigkeit
Mut
zeigen sie alle sich

In den Grenzen treffe ich auf mich
und an ihnen auf dich
Angesicht zu Angesicht

An ihnen lebt der Moment
und schaue ich ihm ins Gesicht
während sie nach kurzem verschwinden
und langsam im Sein Vertrauen erfahren
und sich im Füllen wieder dem Kontakt annähern

Im Sein lebe ich
im Kontakt mit mir
und ja und nein
finden Boden
im Leben

Oh meine Grenzen!

 

HÖLDERLIN AN SUSETTE GONTARD
Am Kreuzweg wohnt
und dicht am Abgrund die Halbheit
und gibt uns Rätsel auf. Wer aber muß fallen?
Wir oder sie?
Da kann unser eigenes Wort uns
unten zerschmettern
oder uns hier ergänzen
Kein leicht zu sagendes.
Nämlich nur unser Leben
ist dieses Wortes Mund. Wo er sich auftut
kann seiner Stimme Strenge gütiger sein
als jene lautlose Milde die liebevoll
dich dich dich
und dich und mich und uns beide
vorüberführen will an der eigenen Antwort
Nah ist und leicht zu lieben
die Lüge
und trägt einen bunten Rock
aus vielen Farben.
An uns aber liegt es daß wir
nicht verlieren die Farbe unserer Würde
daß wir nicht aufgeben
das Unteilbare:
unser eines angeborenes Recht
Nämlich der es nicht hütet
der büßt es ein
denn leicht färbt ab auf uns
auf dich sogar und auf mich
bis in die Herzen die Rostschicht
die unsere Schwächen verdeckt
die zähe falsche Haut
aus Staub und aus welken Blättern
des Vorsichhintuns
Ein Wort aber könnte sein
das risse sie weg
das führte aus jedem Verstohlensein deine Wahrheit
zurück in ihr Eigentum
das immer noch du bist
Sonst brächte kein Hauch mehr
kein Wind von den Gipfeln der Zeit
dir Linderung
und keine Ahnung des Seins
von dem was sein könnte
schenkte die Wahrheit dir wieder:
Nur sie kann du sein
Denn das meiste
ertrotzt sich der Mensch nur mit Schmerzen
Auch du bestehst nicht quallos
im Gegenwind deiner Zeit
Doch wenn du
nicht mehr du sein wolltest
wenn du nicht länger
stündest zu dir
die du bist
und auch nicht länger
zu deiner Freiheit
und nicht mehr
zu denen die in dir wohnen
den Richtungen deines
eigenen Bildes …
was
dann
zwischen den Trümmern
bliebe von dir
und von einem
der dich kennt und
dich liebt?
Erich Fried

 

Einer ist da. Der mich denkt.
Der mich atmet, der mich lenkt.
Der mich schafft und meine Welt.
Der mich trägt und der mich hält.
Wer ist dieser irgendwer?
Ist er ich und bin ich er?
Mascha Kaléko

 

Nimm hin, was dieser Tag dir schenkt.
Das Licht dieses Tages, seinen Atem, sein Leben.
Das Lachen dieses Tages, seine Tränen und Freude.
Nimm das Wunder dieses Tages hin.
Phil Bosmans

 

Zu Ende führen lassen
mich weinen lassen bis meine Tränen im Meer der Seele versiegen
mich spielen lassen um die Wirklichkeiten in der Verschmelzung zu erleben
mich singen lassen mein ureigenstes Lied
mich meine eigene Sprache gebären lassen – dem Erlebten die mir eigenen Worte anziehen
mich lachen lassen bis ich mich nicht mehr halten kann und auf dem Boden kugele
mich das Chaos erleben lassen bis die Blumen im Frühling erblühen
mich tanzen lassen bis ich nicht mehr tanze – sondern jede Zelle und jeder Knochen sich tanzt
mich sprechen lassen, weil ich eine eigene Meinung habe und du deine und sie ihre und jedes Herz gehört werden möchte
mich gehen lassen, weil ich meinen eigenen Weg finden muss und zum Finden auch der Abschied und das Alleinsein gehören
R. E.

 

Sozusagen grundlos vergnügt
Ich freu mich, dass am Himmel Wolken ziehen
Und dass es regnet, hagelt, friert und schneit.
Ich freu mich auch zur grünen Jahreszeit,
Wenn Heckenrosen und Holunder blühen.
– Dass Amseln flöten und dass Immen summen,
Dass Mücken stechen und dass Brummer brummen.
Dass rote Luftballons ins Blaue steigen.
Dass Spatzen schwatzen. Und dass Fische schweigen.

Ich freu mich, dass der Mond am Himmel steht
Und dass die Sonne täglich neu aufgeht.
Dass Herbst dem Sommer folgt und Lenz dem Winter,
Gefällt mir wohl. Da steckt ein Sinn dahinter,
Wenn auch die Neunmalklugen ihn nicht sehn.
Man kann nicht alles mit dem Kopf verstehen!
Ich freue mich. Das ist des Lebens Sinn.
Ich freue mich vor allem, dass ich bin.

In mir ist alles aufgeräumt und heiter:
Die Diele blitzt. Das Feuer ist geschürt.
An solchem Tag erklettert man die Leiter,
Die von der Erde in den Himmel führt.
Da kann der Mensch, wie es ihm vorgeschrieben,
– Weil er sich selber liebt – den Nächsten lieben.
Ich freue mich, dass ich mich an das Schöne
Und an das Wunder niemals ganz gewöhne.
Dass alles so erstaunlich bleibt, und neu!
Ich freue mich, dass ich … Dass ich mich freu.
Mascha Kaléko

 

 

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